Mathias Knauer

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El pueblo nunca muere

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KLAUS HUBER

ERNIEDRIGT – GEKNECHTET – VERLASSEN – VERACHTET...

Eine Einführung

Alles, was ich mache, was ich ausdrücke, ist gegen die glatte Oberfläche gerichtet. 
Es ist unbequem, ohne den verführerischen Finish der reproduzierbaren Dinge, ohne 
die leichtverkäufliche, billige Politur des Einverständnisses.

Fürsprache für alle die, deren Stimme nicht gehört wird, deren Sprache verstummt.

Das Gewissen einer Gegenwart besteht aus den Gewissen jener, die nicht bereit sind, aufzugeben... (Selbstzitat aus ›Kunst als Flaschenpost?‹)

Es geht heute nicht mehr an, hermetische Kunst auf eine idealere Zukunft hin zu schaffen. Cardenals Ruf »Steht alle auf, auch die Toten!« trifft – nicht zuletzt – auch den Künstler, auch den, der seinen Glauben daran hängt, es genüge, sich mit Kom-ponieren als möglicher Selbstverwirklichung zu beschäftigen, als sei diese Kunst autonom.

»Jetzt ist nicht die Zeit für Literaturkritik noch für surrealistische Gedichte gegen Militärdiktaturen. Und wozu Metaphern, wenn die Sklaverei keine Metapher ist und keine Metapher der Tod im Fluß das Mortes und auch nicht die Todesschwadron?«

(Ernesto Cardenal: Epistel an Monsignore Casaldáliga)

 

Die Herausforderung durch die konkreten Verhältnisse unserer Gegenwart sind so übermächtig, daß wir – nicht nur wir Künstler – wie gelähmt zurückbleiben. Und ich meine damit nun beileibe nicht nur die Wirklichkeit der Dritten Welt, sondern ebensosehr die unserer eigenen und jener, die man die Vierte nennt: die Ausgestoßenen, Erniedrigten, die Marginalen in unseren eigenen Städten und Ländern.

Was mich betrifft, kann ich nur sagen, daß diese Herausforderungen so übermächtig waren, daß sie bereits in der Vorbereitungsphase, als ich versuchte, Texte zu diesem Werk zusammenzutragen, Symptome von Arbeitslähmung, ja Totstellreflexe in mir produzierten. Und jetzt noch, Monate nachdem die Arbeit bewältigt ist, lähmt mir etwas die Feder, wenn ich versuche, mich über Konzept und Arbeitsprozeß zu äußern: ich bin mir der Absurdität meiner Situation als Komponist inmitten des satten, übersatten, immer wahnsinniger nuklear aufgerüsteten Europa wohl bewußt. Diesen Grundwiderspruch mit seiner ganzen Neurose, die uns alle befällt, wenn wir uns einem solchen Thema nähern, habe ich versucht, mitzukomponieren.

 

Ich versuche, in der Musik, die ich mache , das Bewußtsein meiner Zeitgenossen, meiner Brüder und Schwestern, die – wie wir alle – zu schlafenden Komplizen weltweiter Ausbeutung geworden sind, hier und jetzt zu erreichen, zu wecken.

Und dies mit einem nicht geringeren Anspruch als dem: ihr Denken und Fühlen aufzubrechen, zu erschüttern. Und sei es vorläufig, blitzartig, für ein paar wenige Sekunden, die nicht mehr auszulöschen sind.

Ich gebe gerne zu, daß dieser Anspruch über die Spiegelfunktion der Kunst um einiges hinausreicht. Gerade um soviel, daß das Prinzip Hoffnung am Horizont aufzudämmern vermag – die konkrete Utopie –: Veränderung der Zukunft durch die Gegenwart. Zu Beginn meines Werks, das ich Ernesto Cardenal und Ernest Bour gewidmet habe, stehen sich stammelndes Verstummen und zerreißender Schrei direkt gegenüber. Es ist dies für mich die einzig mögliche Weise, mich musikalisch kongruent zum Anfang des Leidenspsalms zu äußern: »Mein Gott, warum hast Du mich verlassen...«

Das Zusammenprallen von äußerstem Pianissimo (an der Hörgrenze) und äußerstem Fortissimo (an der Schmerzgrenze) bleibt zentral bedeutend für das ganze Werk, bezeichnet den Raum zwischen Verstummen und Schrei und deutet die Richtung dieser Musik als Passion des ausgebeuteten, erniedrigten Menschen in unserer Zeit.

 

Voraus schicke ich einen Vorspruch – ›stumm‹, über Videoschirme –, der seinerseits zum Grundthema wird: Unterdrückung.

 

Und nachdem er die Tiere gezähmt hatte, erfand
der Mensch das Zähmen des Menschen.
Den Feind nicht töten: ihn arbeiten lassen.
Die Sklaverei als Basis der Industrie 
und der Anhäufung des Kapitals.

TEIL 1 – »Um der Unterdrückten willen...«

In den Psalmtext, der in der Nachdichtung Cardenals immer konkreter in die Gegenwart transponiert erscheint (Maschinengewehre zielen auf mich... Man hat mir eine Nummer eingebrannt... Nackt brachte man mich in die Gaskammer...), habe ich überdies die vier Wörter des Werktitels integriert, die immer wiederkehren (Erniedrigt – geknechtet – verlassen – verachtet)

Diese Textschicht, die sich durch den ganzen ersten Teil des Werkes in kleineren oder größeren Fragmenten hindurchzieht, in deutsch, englisch und spanisch, wird ausschließlich vom großen Chor, geleitet vom weitgehend unabhängig dirigierenden Chorleiter, in homophon-vielstimmigem Satz übernommen. Es ist dies sozusagen der objektive, historische Hintergrund, vor welchem sich die Passion Knoblochs, des Gießereiarbeiters vollzieht. Die Chorsätze sind, oft teilweise oder beinahe verdeckt von den turbulenten Vorgängen im Vordergrund – untereinander fortlaufend verknüpft durch Tonbandaufnahmen von Chor- und Sprechstimmen, deren Klanglichkeit sich mehr und mehr den Geräuschen einer Stahlgießerei annähert (Vocoderisierunq).

So gewinnt die (objektivierende) Hintergrundschicht den Charakter eines ›cantus firmus in passacagliaartiger Verkettung, eines cantus firmus, der allerdings fortwährend vom Ersticktwerden bedroht erscheint.

Der Bericht des Gießereiarbeiters evoziert in seiner musikalischen Form eine monströse Maschinerie, realisiert durch die Aufteilung aller übrigen Ausführenden in sieben vokal-instrumental gemischten Gruppen. – Diese Gruppen ›arbeiten‹ unter vier verschiedenen Dirigenten, in unterschiedlichen, immer wechselnden ›Arbeitstempi‹: Eine grausam-rücksichtslose Interdependenz (je weiter die Schicht fortschreitet...), in welcher der beschwörende Ruf Knoblochs Glaubt mir, Leute... unterzugehen droht.

Im Ganzen: vor dem Hintergrund der historischen Dimension (Chor) die Passion des bis zur physischen Selbstaufgabe ausgebeuteten Arbeiters: Man wird mich wie einen alten Lappen wegschmeißen... Musikalisierung einer inhumanen, hybriden Arbeitssituation mit ihren daraus folgenden Streßerscheinungen. Diese Inhalte drücken sich – bis in die Behandlung der Stimmen und Instrumente hinein – in der ununterbrochenen Hektik und Motorik der Musik konkret aus, bis zu Erschöpfung und Auseinanderbrechen.

Plötzliches Umschlagen der Aussage: der Chor, aus dem Hintergrund tretend, übernimmt die Führung, indem er die schließliche Befreiung aller Erniedrigten verkündet: Um der Unterdrückten willen und weil die Ausgebeuteten klagen, werde ich mich erheben... Ich werde ihnen die Freiheit schaffen.

Diesem Gesang der Hoffnung auf Befreiung, der musikalisch nichts anderes ist als die aneinandergerückte Wiederholung der vorausgehenden Chorfragmente, schließen sich Schritt für Schritt alle Instrumente und die 16 Einzelstimmen an – Freedom... die Freiheit... la libertad.

Es ist dies ein früh vorausgenommener Hinweis auf das hymnusartige Tutti des letzten Teiles (VII).

Hat dieser erste Teil die Ausbeutung in Zentren wirtschaftlicher und industrieller Macht mit ihrer zur Neurose tendierenden Hybris zum Thema, so gilt der

 

 

TEIL II – »Armut, Hunger, Hunger«

dem Überlebenskampf einer schwarzen Mutter in den Favelas Brasiliens. Carolinas Tagebuchaufzeichnungen, welche die Passion der entrechteten Frau in ihrem täglichen Kampf gegen Hunger, Durst, Ungerechtigkeit, die ständige Sorge um das Überleben der Kinder festhalten, stehen hier im Vordergrund, als unnachgiebige Anklage: das darf nicht wahr sein in einem so fruchtbaren Land wie dem unsern!

Carolinas Aussagen habe ich im Brasilianischen belassen. Sie wird umgeben von vier Frauen, die ihre Anklagen kommentieren und diese zum größten Teil auch (ins Deutsche) ›übersetzen‹.

Auf einer zweiten Ebene vollzieht sich eine objektivierend-beschreibende Nachzeichung der Slums. Sie wird gebildet durch Ausschnitte aus einem Gedicht Cardenals, in welchem er durch die Gassen des nicaraguanischen Elendsviertels Acahualinca geht. Die anklagenden Bilder in ihrer unbeschreiblichen Härte (Kinder mit glasigen Augen, kränkliche, mickrige, elende, ausgemergelte Kinder... Der Mond flimmert über der Scheiße...) münden in den wiederholten Ruf La injusticia / Die Ungerechtigkeit! Die Musikalisierung dieser zweiten Textschicht übernehmen wechselnde Ensembles aus Einzelstimmen (spanisch und deutsch).

Die Instrumente bilden, in fünf sich verändernden Gruppen, eine dritte Interpretationsebene, welche in gewisser Weise beide Textebenen vermittelt. Neben sehr viel geräuscherzeugenden Vulgärinstrumenten herrschen tiefe und tiefste, hohe und höchste Lagen und die entsprechenden Farben vor; der Klangleib bleibt leer, hohl, wie sehr auch immer er sich ›quält‹.

Kontraktion – Depression; Aggression – Leere (Luftgeräusche) wären einige unzureichend thematisierende Gegensatzpaare.

Carolina: Hier in der Favela ist wieder ein Kind gestorben. Wenn es leben würde, würde es Hunger leiden.

 

TEIL III – »Gefangen, gefoltert...«

exponiert die Konsequenzen einer totalen Isolation am Beispiel des schwarzen amerikanischen Strafgefangenen George Jackson. Sein Monolog, in sich hineingefressen, zwischen Aufschrei und Verstummen, wird aufgebrochen durch mehrfach durchsickernde Bruchstücke: Fragmente einer Folterszene, fast erstickt, wie hinter Mauern, die Worte zwei Gedichten Cardenals entnommen. Eine dritte Schicht baut aus harten Orchesterschlägen einen unentrinnbar geschlossenen »Zeitkäfig« auf, dessen gesamtes Akkordmaterial aus der patriotischen Hymne "O say! Can you see..." abgeleitet ist. Die Orchesterschläge werden verschärft durch Schläge von Lederruten auf Rührtrommeln, Tomtoms, Pauken, Lederkissen... Solchermaßen wird nicht nur die Folterszene fragmentiert – vier Violoncelli über Gate-Schaltung attackieren Einzelstimmen –, auch die Stimme Jacksons wird rücksichtslos zerhackt, geschlagen, geschunden...

 

TEIL IV – »Steht alle auf, auch die Toten«

bringt die Konfrontation des sich aus Unterdrückung und Finsternis erhebenden Volkes mit der brutalen Repression der Militärs (hier habe ich konkret an Somozas Nationalgarde gedacht).

Alle Ausführenden sind in zwei Hauptgruppen aufgeteilt: Piccolos, Blechbläser, zunehmend präpariertes Klavier, Schlagzeuger und einige wenige Streicher – diese quasi als Mitläufer auf akustisch verlorenem Posten! – bilden die massive Repressionsgruppe, welche in nicht weniger als neun Ansätzen jegliche Entwicklung der Musik hin zu befreiendem Ausdruck brutal niedertrampelt.

Alle diese marschartigen Repressionsmusiken sind eingeführt durch ›marschierende Truppen‹ auf Tonband, nach deren Tempo jene sich sklavisch auszurichten haben – die marschierenden Truppen als ›Importware‹.

Die andere Hauptgruppe erhebt sich aus fast verschütteten, stammelnd stöhnenden Anfängen (nunca ...muere...) zu immer größerer Kraft der Befreiung (patria libre o morir! – La tierra comun!) und schließlich zum ausbruch (Reißt die Zäune ein. Steht alle auf! Die Erde allen gemeinsam!) und zum aufstand (Steht alle auf, auch die Toten! – Das große Brot erhebt sich!).

Endlich vereinigt sie sich in weitgeschwungenen Kantilenen der Freiheitszuversicht (syllabische Musik der Instrumente) in hohen und höchsten Lagen, in höchstem Glanz.

Eine dritte – wiederum die objektiv-historische – Textschicht überlagert sich den zwei Hauptgruppen: Ausschnitte aus einem Gedicht Cardenals, ›Die Bäuerinnen von Cuá‹, welches den Terror der Nationalgarde gegenüber der Landbevölkerung protokolliert: Aussagen von Frauen jeden Alters über Erpressung, Vergewaltigung, Verschleppung, Massaker (Viele hörten die Schreie von Cuà – Wimmern des Vaterlandes in Wehen).

Diese Textschicht habe ich ausschließlich dem Chor vorbehalten, der gegen Ende immer mehr ins Sprechen übergeht, welches hier expressive Bedeutung annimmt: Wir wissen nichts von ihnen! – Aber sie haben sie doch gesehen –ihre Träume sind subversiv...

 

TEIL V – »Senfkorn«

der unmittelbar anschließt – verknüpft durch das fast unhörbare Liegenbleiben der erreichten Randtöne während einer sehr langen Fermate – ist Same und Ausgangspunkt, aber auch Ziel und Mittelpunkt der ganzen Konzeption: die utopische Prophetie einer Welt des Friedens.

Hier erscheint, eingelassen in den Gesamtablauf wie ein Fenster vollkommenster Hoffnung, als äußerster Punkt der Befreiung des Menschengeschlechts das Friedensreich, Cardenals Reich Gottes auf Erden. Es wird verkündet von der Stimme eines Knaben (Jesaja: Ein kleiner Knabe wird sie führen...).

Cardenals Nachdichtung von Psalm 36 vermeidet anderseits alles Verklärende, bringt im Gegenteil harte, konkrete Aussagen, die der Knabe in der Landessprache spricht, nicht singt, unabhängig von einer äußerst zarten, introvertierten Musik: Verlier nicht die Geduld, wenn du siehst, wie sie Millionen machen... Ihre Aktien sind wie das Heu auf den Wiesen.

Senfkorn habe ich im Mai 1975, vier Jahre vor dem Beginn der Arbeit an Erniedrigt... für eine kleine Kammerbesetzung komponiert. Es ist dies meine erste Komposition auf einen Text Cardenals, dessen Bücher ich allerdings schon seit Jahren las. – Ohne damals bewußt eine Verbindung zu meinem späteren, sich bereits in Umrissen andeutenden Plan eines großen Werkes zu sehen, erscheint merkwürdigerweise im Senfkorn bereits jene ganze Spannweite im Keim.

 

TEIL VI – «Amanecer» / »Tagesanbruch«

In diesem Teil – er ist mit dem vorangehenden wiederum durch eine lange Fermate der gleichen Randtöne verknüpft, die schon die Teile IV und VI verbanden –, wird die in äußerster Ferne auf leuchtende Utopie des Friedensreiches nun konkret: das Erwachen des Menschen beim Anbrechen des Tages (Noch dunkler wurde die Nacht, doch darum, weil es Tag wird) in einem Land, das mit hochgespanntesten Erwartungen in eine friedliche Zukunft blickt.

Cardenal ist mit dem zugrundeliegenden Gedicht ein Text von erstaunlicher Nähe der Matutin-Dichtungen eines Ambrosius gelungen (Schon krähen die Hähne... Steht auf von euren Betten, euren Matten...), welcher gleichzeitig klarste politische Aufforderungen in alltäglichen Tätigkeiten enthüllt: ‹Die Träume trennten uns von einander, doch das Erwachen vereint uns... Steh auf, Pancho Nicaragua, nimm die Machete, es gibt viel schlechtes Gras zu schneiden, nimm die Machete und die Gitarre!

Ich habe versucht, ein aus der Abfolge von nur drei vieltönigen Akkorden bestehendes, sich fast unmerklich, aber kontinuierlich veränderndes, weit gespanntes Klanggebilde zu entwerfen, das durch die dauernd wechselnde Instrumentation und sein zartes Pulsieren in verschiedensten Zeitebenen, atmet: Das land – der see – der himmel: Symbole der Freiheit, wie sie im Gedicht des anschließenden VII.Teiles ›angesprochen werden und den Bogen schließen.

Darüber sind – in einer unabhängigen Ebene – sozusagen jener der menschlichen Tätigkeiten – Geräusche, Klangtropfen, konkret tierische Rufe wie ein Netz ausgebreitet. Ihre Dichte, wie auch die der Singstimmen, nimmt nach der Mitte hin zu (Ich singe ein Land, das bald geboren wird). Es sind dies vor allem Holz- Metall- und Stein-geräusche, dazu das Hantieren mit Eßgeschirr, ›Vogelrufe‹, das ›Brüllen von Tieren‹, alles möglichst konkrete Klänge.

In dieses fluktuierende, das ›Erwachen‹ evozierende Klangbild, habe ich, als ein weiteres Netz, die menschlichen Stimmen hineinkomponiert, einander ›zurufend‹, integriert in den beginnenden Morgen und die morgendlichen Tätigkeiten (Es ist Zeit, das Feuer zu schüren... Bringt eine Öllampe, damit wir unsere Gesichter sehen...).

(Hier müßte ich erwähnen, daß die Teile IV und VI vorauskomponiert wurden, nämlich zwischen Herbst 1978 und Frühling 1979, allerdings in einer rein instrumentalen Fassung für 15 Instrumentalisten. Sie ›verdanken‹ in dieser ersten Form ihre Entstehung einer ganz konkreten Erfahrung: Die grausame und, wie sich später zeigen sollte: erfolglose Niederwerfung der nicaraguanischen Freiheitsbewegung durch die Nationalgarde, die Massakrierung des Volkes, vor allem aber der Jugendlichen, entfachten in mir Zorn und Empörung. Ich ließ andere Arbeiten liegen und schrieb für Arturo Tamayo und Studenten aus Freiburg diese beiden Instrumentalsätze, als Zeichen meines Protestes. – Das Werk heißt Ich singe ein Land, das bald geboren wird. Es ist Ernesto Cardenal und dem Volk von Nicaragua gewidmet. – Während der Teil, ›Steht alle auf, auch die Toten‹, stark überarbeitet und erweitert wurde – man müßte eigentlich von einer Rekomposition sprechen –, habe ich Teil VI praktisch unverändert übernommen, mit Ausnahme der hinzukomponierten Singstimmen.)

 

TEIL VII – »Das Volk stirbt nie«

In einem Ausbruch aller Kräfte verbinden sich Chor und Einzel stimmen zu einer hynnusartigen Prosodie. Sie skandieren, in Spanisch, von Knobloch und Carolina und Jackson unterstützt, die lapidaren Sätze Cardenals: Das Volk ist unsterblich / Lächelnd tritt es aus der Leichenhalle / Ich singe ein Land, das bald geboren wird / Das Volk stirbt nie. Und schließlich Der See, an einigen Stellen blau, an anderen wie Silber und Gold / Am Himmel fliegen die Reiher.

Über diesen Chorzeilen ist das gesamte Orchester in vier Gruppierungen ausgespannt (insgesamt, mit Chor und Einzelstimmen, sind es wiederum sieben Gruppen, wie in I, hier aber, im Gegensatz zum Beginn des Werkes, wo größte Zersplitterung herrschte, zu einem starken, integrativen Ganzen vereinigt.

Jede Instrumentengruppe trägt auf ihre Art zum Hymnus des Volkes bei: Die erste, statisch-akkordisch, indem sie, als Mutterklang, das gesamte Tonmaterial jedes Abschnitts clusterartig ausspannt. Die zweite durch rhythmisierte Veränderungen des jeweiligen Anfangsakkords. Die dritte und wichtigste entwickelt die zugrundeliegende Intervallfolge ostinatoartig-einstimmig, etwa im Sinne eines sehr weit gespannten Glockenschlagens. Und die vierte bringt abschnittweise – den Chorzeilen überlagert – den Auferstehungschoral Christ lag in Todesbanden, in einem der Bachschen Sätze, als Zitat (4 Blechbläser und Kontrabaß).

Das gesamte Tonhöhenmaterial dieses Teiles habe ich aus diesem Zitat entwickelt: die Auferstehungshoffnung des Chorals transponiert in unsere Gegenwart und säkularisiert im Erklingen des Glockenschlagens.

Durch stets in ihrer Reihenfolge veränderte Wiederholungen immer anderer Kombinationen der Gruppen wird eine nach der anderen zu Ende geführt, bis nur das fortwährend sich behauptende Glockenschlagen übrigbleibt (quasi ostinato, nur noch Schlagzeuge).

Der den I.Teil meines Werkes abschließende, ebenfalls hynnusartige Gesang der Hoffnung auf Befreiung wird in diesem letzten Teil aufgenommen und eingelöst. Er wird hier Realität.

Dem Verlauf ist ›strophig‹ überlagert ein doppeltes Play-Back des Tonbandes, welches die choralartig kreisende Tendenz der Musik wiederholt, fortführt und verräumlicht:

»Das Volk stirbt nie.«

*

Abschließend einige Bemerkungen zur extremen Komplexität dieser Musik und im Zusammenhang damit zur abschnittsweise variierenden Besetzung des Werkes.

Die extremste Komplexität erreicht diese Musik im ersten Teil, und zwar durch eine »Polytempik«, die durch die gleichzeitige Übereinanderschichtung dauernd wechselnder unterschiedlicher Tempi entsteht. Es ist natürlich klar, daß ein derartiges kompositorisch rücksichtsloses Vorgehen mit seiner potenzierten Polyphonie der verschiedenen Zeitebenen sich auf eine (vordergründige) Textverständlichkeit negativ auswirken muß. Nun ist allerdings das Sich-Verstehen, das Verstandenwerden, gerade nicht ein Merkmal von inhumanen, hybriden Arbeitssituationen unserer industrialisierten Gesellschaft. Wie könnte demnach ein Komponist, will er konkret beim Thema bleiben, die ein- bis zweidimensionale Textverständlichkeit überhaupt anstreben wollen? Ähnliches gilt für die Teile II und IV.

In diesen Zusammenhang gehört sicher auch die simultane Verwendung verschiedener Sprachen. Nur sehe ich in ihr keinesfalls eine künstlerische Konsequenz des »Einander nicht verstehen Könnens«, sondern vielmehr die Anerkennung der kulturellen und gesellschaftlichen Identität jeder Sprache.

Nun wird aber andererseits ein dramaturgisches Konzept im Aufbau des ganzen Werkes wirksam, das sich vereinfacht so formulieren ließe: von extremer Komplexität in den Teilen I und II zu größtmöglicher Geschlossenheit in den Teilen VI und VII, oder: von potenzierter »Pseudo«-Polyphonie zu »echter«, »verbindender« Polyphonie.

Analoges ließe sich anhand der räumlichen Disposition der Ausführenden aufzeigen. So ist zum Beispiel die Kammermusikgruppe, welche den fünften Teil musiziert, von allem Anfang an – also gerade auch im turbulenten ersten Teil – in der Mitte sämtlicher Ausübenden placiert, obwohl sie als schwächste Gruppe immer wieder unterzugehen droht. Wenn dann – für das »Senfkorn« – der Knabe auftritt, der Pianist zum vor- und nachher nie gespielten Cembalo kommt, der Hauptdirigent sein Pult verläßt und zu der Gruppe hintritt, wird unmißverständlich die Funktion dieser Gruppe klar.

(1983, revid. 1995 durch MK. nach der Version im Programmbuch WMD 1991)

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