Mathias Knauer

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Berta Urech

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Sequenzen

Der Film beginnt mit der Einstellung "Nachtzug" [aus Die unterbrochene Spur].

"Zurlindenstraße"  [aus Die unterbrochene Spur]

Landenberganlage in Zürich [neue Aufnahmen 1988]

Statement Urech [aus Die unterbrochene Spur]

Fotosequenz (neu), mit Musik von Hanns Eisler: Kominternlied (instrumental)  [neue Aufnahmen 1988]

Habsburgstraße (Schwenk) [aus Die unterbrochene Spur]

Statements Urech [aus Die unterbrochene Spur]

Treppenhäuser [neue Aufnahmen 1988]

Statements Urech [aus Die unterbrochene Spur]

Quartieraufnahmen und Fotos von Gertrud Kurz, Paul Vogt, Regina Kägi-Fuchsmann.  [neue Aufnahmen 1988]


Text des Films

Menschen auf der Flucht.

Antifaschisten aus Deutschland zum Beispiel, 1933 bis 1945.

Geflohen vor den Sturmabteilungen Hitlers, der Gestapo. In der Schweiz Zuflucht suchend. Geflohen übers Dach vor dem Zugriff der Polizei; von Freunden gewarnt, in letzter Minute, untergetaucht; geflohen in die Schweiz, mit der Hoffnung, als Flüchtling aufgenommen zu werden.
Zurückgelassen: die Familie. Zurückgelassen viele Freunde (im Gefängnis, in den Konzentrationslagern). Sie kommen über die Schweizer Grenze mit der Angst vor den Behörden, die unter dem Druck der Nationalsozialisten stehen. Viele geflohene Hitlergegner haben sie verhaftet und an die Grenze gestellt. Viele haben sie ausgeliefert in die Hand der Mörder.

Die Schweiz als Asylland: reserviert für jene, die keine politischen Schwierigkeiten bringen.

Viele Flüchtlinge und Emigranten wissen es. Sie melden sich bei den Hilfswerken und bei den Kirchen. Um der Abschiebung zu entgehen, werden viele bei Gesinnungsfreunden versteckt – oft für Wochen, manche jahrelang.

Wo haben sie gewohnt, die von den Nazispitzeln und der Polizei Gesuchten? Wer hat sie beherbergt: die Verfolgten, die Männer und Frauen des Widerstands im Schweizer Exil?

Eine Straße in Zürich. Fast in jedem Haus leben hier in den dreißiger Jahren politische Emigranten aus Italien, Deutschland, Österreich.
Zum Beispiel beim Schreiner Kirschbaum, im Hinterhofhaus, Zurlindenstraße 215. Viele werden von hier aus im Quartier untergebracht. Zum Beispiel bei Jost und Kreszenz Huber. Die beiden werden 1941 zusammen mit anderen zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt, weil sie antifaschistische Schriften aufbewahrt und weitergegeben, und weil sie während eines halben Jahres einen Emigranten bei sich versteckt haben.
Andere wohnen, nicht weit von hier, bei der Familie Vögeli. Max Vögeli ist Austräger der Zeitschrift »in freien Stunden«. Berta Vögeli kocht jeden Tag für fünf oder sechs Emigranten. Politisch ist sie mit den meisten nicht einig, aber sie sagt sich: die haben zu Hause auch eine Mutter.
Sie weiß nicht, warum die Leute zu ihr kommen, wenn sie nachts plötzlich vor der Tür stehen. Sie kennt nicht die Akten des Deutschen Volksgerichtshofs, in denen ihr Name steht – preisgegeben, vielleicht unter Folter, von einem, der sich im Gefängnis eingeprägt hat: Anlaufstelle Vögeli, Zürich.
Im Haus 235 wohnt Frau Röslin, Witwe mit zwei Kindern. Sie arbeitet bis spät nachts als Weißnäherin, um die Familie zu ernähren, aber sie hat immer Platz für einen Emigranten.
Einige Familien von vielen, an der Zurlindenstraße in Zürich, zum Beispiel.

Zürich Wipkingen, 1980.Wir besuchen Berta Urech, die für die Rote Hilfe seit den zwanziger Jahren politische Emigranten betreut, ihnen Unterkunft gesucht und sie beherbergt hat.

Berta Urech: (Schweizerdeutsch)
»In der Roten Hilfe habe ich geholfen, Päckli fortzuschicken, habe Kleider gesammelt und anderes, damit man Pakete in die deutschen Gefängnisse vor allem schicken konnte. Einer aus Deutschland war schon 1926 lange bei uns. Damals habe ich schon mitgeholfen und dafür gesorgt, daß es für die Emigranten Quartiere gab.
Ich kam 1915 nach Zürich und habe 1917 geheiratet. Mein Mann war Sozialdemokrat, in der Partei und in der Gewerkschaft. Und 1921 ist dann die Kommunistische Partei gegründet worden, und 1924 haben wir die Rote Hilfe gegründet; da bin ich eingetreten – habe schon bei der Gründung mitgeholfen.
Ich war immer in der Roten Hilfe - da haben wir alle Jahre ein Fest gemacht, damit die Rote Hilfe wieder etwas Geld in ihre Kasse bekam, nicht wahr.
Wir haben Kartoffeln gekocht und Kartoffelsalat - da habe ich immer in der Küche mitgeholfen.
Aber später, als dann der Hitler kam, da wurde es schwierig. Da hat man eben die Rote Hilfe ausgebaut, und da habe ich von allen Bezirken der Stadt Leute zugewiesen bekommen, die sich bei der Roten Hilfe angemeldet hatten.
Nicht wahr: es gab ja verschiedene Organisationen, die Flüchtlinge aufnahmen; die Sozialdemokraten haben auch Emigranten angenommen. Aber wir hatten vor allem Kommunisten - die haben sie ja am meisten verfolgt, die Kommunisten.
Ja: viele hatten Emigranten, da drüben im Kreis 10. Aber die meisten von ihnen sind gestorben, sie leben nicht mehr.

Der Coiffeur Blattmann! Mit dem hatte ich eine Vereinbarung, daß er alle Monate eine gewisse Portion Emigranten zum Haare schneiden, Rasieren und so - der hatte manchmal alle Tage zwei oder drei, denen er gratis die Haare geschnitten hat, auch Frauen schnitt er die Haare. Später hat er ja gewirtet - gerade gegenüber, in der "Habsburg" - aber damals war er lange Coiffeur.
Die Leute waren sehr gut eingestellt gegen den Faschismus - alle gaben freiwillig, und man hat selten eine Absage bekommen. Aber als es dann gar nicht mehr gegangen ist, da habe ich einfach die Wirte abgesucht und mit ihnen geredet: Sie sollten doch Emigranten nehmen. Man hat unter den Wirten viele gefunden.
Und dann gab es ja noch das Problem der Kleider. Viele kamen ja ohne Kleider in die Schweiz, sie mußten durchs Fenster, übers Dach flüchten, durch die Wälder ziehen, um in die Schweiz zu kommen. Viele sind ja über den Rhein geschwommen, oder anderswo, und kamen naß hierher. Da mußte man doch sehen, daß sie Kleider bekamen. Man hatte natürlich kein Geld, ihnen Kleider zu kaufen, wir waren einfach auf dem Hund; wir hatten fast nichts mehr.

Und so ging ich einfach in die oberen Kreise hinauf, in den Kreis 7, wo die Sozialdemokratischen hauptsächlich gesessen sind - die Sozialdemokratie hatte ja viele Mitglieder dort oben, Lehrer, Realschullehrer, alles mögliche, so Wissenschafter und Zeugs - da bin ich eben dort hinaufgegangen und habe einfach Kleider gesammelt.

Ich ging mit den Leuten einfach reden - ganz offen: ob sie nicht einen Emigranten nähmen, vielleicht zum übernachten oder so... Und dann habe ich Betten zusammengetrommelt - da und dort bekam ich Betten, die waren natürlich nicht mehr die neusten, aber immerhin, man konnte darin schlafen.
Ich mußte ja fast jeden Tag etwas suchen. Ich schlief manchmal nur von eins bis morgens vier oder fünf. Da mußte ich auf, habe die größten Wäschen gemacht und am Abend mußte ich wieder zur Arbeit!
Ich kam manchmal nach Hause, stellte den Korb ab und bin auf die Suche gegangen. Und manchmal hatte ich selber zwei, drei in der selben Nacht. Mein Mann mußte oft den Militär-Kaput als Decke nehmen - ich brauchte alles, bis ich alle unter der Decke hatte! Nachts konnte ich sie ja auch nicht draußen lassen. Die Sache ist halt auch immer schwieriger geworden.
An manchen Orten konnten wir zwar etwas zahlen, wenn auch nicht viel - wo es Arbeiter waren, die selber sehen mußten, wie sie durchkamen. Und so sind wir eben, jeweils am Sonntag Morgen gruppenweise Sammeln gegangen, damit wir wieder etwas zahlen konnten.
Ja, das war noch schön: da konnte man mit den Leuten reden. Ich machte zu Hause eine Fleischsuppe, die konnte auf der kleinen Flamme von selber kochen, und dann bin ich auf Agitation gegangen.

Ich muß sagen: es hat mich niemand verraten von allen, mit einer Ausnahme: Ich mußte einen ganz tüchtigen Burschen unterbringen, Krebser hieß er. Ich habe dem an der Kyburgstraße ein Quartier gefunden, und am anderen Morgen ist der verhaftet worden. Am Abend vorher war ich noch in der Nähe und habe dort auch geworben, da kam dort eine Frau zur Tür heraus und sagt mir: Jesses Mal, Genossin! Gehen sie nicht zu dem, das ist ein Verräter. Und der hat offenbar gesehen, daß ich jenen Emigranten zu der Frau an der Kyburgstraße gebracht habe, hat es der Polizei angezeigt, und so haben sie den am Morgen gerade abgeholt.

Zwanzig Haussuchungen habe ich gehabt! Aber nie haben sie einen Emigranten erwischt und nichts... (lacht:) Ich kann natürlich nicht alles erzählen, wie ich das gemacht habe, sonst merkt das die Polizei...
Sie machten mir Haussuchung und es waren zwei Emigranten in Haus – und doch haben sie keinen erwischt. Irgendwie haben wir den hinaus gebracht!
Und sie haben mir Abdrücke gemacht von der Schreibmaschine, die ich hatte - sie konnten mir nie Vorwürfe machen.
Ich habe mich einfach immer darauf versteift, wenn sie etwas fragten: ich weiß es nicht, ich weiß nichts und kann nichts sagen. Man durfte natürlich nicht alles sagen, nicht wahr, wie ich gearbeitet habe.
Oder ein anderes Mal sind sie gekommen schon am frühen Morgen, um fünf. Jemand vom Haus kam mir sagen: Passen sie auf, sie kommen jetzt. Sie sind jetzt in der Anlage drüben, aber sie kommen. So habe ich das gemerkt. Und ich hatte damals über 200 Adressen eines Vereins, wo ich Emigranten plazieren konnte. Da nahm ich die und habe sie im Ofen verbrannt. Damals hatte man ja noch einen Heizofen! Sie haben dann noch einen Stecken genommen und wollten es herausholen, aber sie konnten nichts mehr damit anfangen. Sie sagten: So, sie haben alles verbrannt! Und ich sagte: Ich habe das Recht, zu verbrennen, das ist mein Ofen. Ich kann verbrennen was ich will, das ist meine Sache.
Die hätten doch dort bei allen 200 Haussuchungen gemacht, und sie hätten dort ein paar erwischt.
Ich hatte eben Unangemeldete ab und zu, und das durfte man nicht, von der Polizei aus...«

Berta Urech ist 1985 mit 93 Jahren gestorben.

Das Quartier verändert sich; kaum jemand noch erinnert sich an jene Zeit, und auch die »Habsburg« gibt es nicht mehr.

Erinnern wir uns der Frauen und Männer, die unbeirrt und mutig den Verfolgten halfen, da die offizielle Schweiz vor dem Faschismus kuschte; an die, die protestierten gegen den Eigennutz, die Judenverfolgung, den Fremdenhaß. Und gegen die Ausweisungen. 
An jene, die halfen, wie unermüdlich die »Flüchtlingsmutter« Gertrud Kurz und der Christliche Friedensdienst; der Flüchtlingspfarrer Paul Vogt und die Hilfswerke der Kirchen; an Regina Kägi Fuchsmann, die das Arbeiterhilfswerk aufgebaut hat.

Und an die vielen namenlosen Menschen, die diese Hilfe mit ihrer Tat unterstützt und ermöglicht haben.