Mathias Knauer

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El pueblo nunca muere

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MATHIAS KNAUER

Einige Notizen zum Film »El pueblo nunca muere«

(Aus dem Exposé zum Filmprojekt, Juni 1983)

Die Aufnahmen vom Ensemble werden öfters scheinbar unabhängig vom oder scheinbar gegen den Rhythmus der Musik montiert. Sie scheinen zufällig einzutreten und zu wechseln, ähnlich zufällig wie das Auftreten von Solo und Ensemble, wie es auf den ersten Blick wirken mag. (Wirklich ist es natürlich keine Unabhängigkeit, sondern ein jedesmaliges Setzen eines Bildwechsels, aber eben zu einem Zeitpunkt, der mit den musikalischen Abläufen nicht unmittelbar gekoppelt ist.)

Angestrebt wird nicht die Verdoppelung der ohnehin hörbaren Oberflächenstruktur der Musik durch den Schnitt, erst recht nicht die scheinbar synchrone Untermalung von Realszenen durch Musik (schon von daher drängt sich ein möglichstes Stillestehen der Musik während der Real-Exkurse auf. Nichts Zeigefingerndes. Hingegen die Idee eines arbeitsteilig von den beiden Produktivkräften Ton und Bild erzeugten Texts.

Je unabhängiger die Montage sich gegenüber der hörbaren Oberflächenstruktur der Musik verhält, umso kräftiger wirken an entscheidenden Stellen Synchronismen wie selbst das Ausfallen des Bildes (Einsatz von Titel oder Schwarz).

* * *

Wenn einer im Flügel eine Kette auf die Saiten wirft oder mit einem Schlägel auf den Metallrahmen haut; die Gesten mancher Schlagzeuger-Aktionen, überhaupt alle außergewöhnlichen, undomestizierten Artikulationsweisen, verweisen auf mehr als nur den innermusikalischen Text.

Ohne diese zu Zeichen herabzuwürdigen, sollen die Konotationen einzelner Instrumentalaktionen des Stückes doch leicht unterstrichen werden.

Da nun hier durch die Beschriftung des rein Instrumentalen durch die Texte der Stimmen solche auf Allegorisches tendierende Assoziationen naheliegend sind, gilt es damit äußerst sparsam umzugehen. Auch hier: nicht mehr als Fermente – »Überzeugen ist unfruchtbar«

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Ebenso wie man beim Drehen eines Dokumentarfilms nicht ohne ein klares, auf eine eindeutige Lösung zielendes Konzept auskommt, braucht man wiederum einen Überschuß, Spielmaterial, mit dem man in der Montage noch gestalten kann: Rhythmen verschieben, gewichten, Raumbeziehungen verändern. Dies gilt auch hier: gedreht werden mußte bei der Aufführung mit einer genauen Vorstellung von der Découpage, aber mit Verdoppelungen, Überschneidungen, damit der so gewonnene Stoff des Montierens noch formbar blieb.

Dies bedeutet nicht Beliebigkeit, wie bei jenen Regietechniken, wo eine Szene ›zur Sicherheit‹ – aus allen möglichen Winkeln aufgenommen wird, um dann beim Schnitt noch alle ›Freiheiten‹ zu haben. Solches führt zu einer Verflachung, einer minderen Intensität der einzelnen Einstellung. Müssen in diesem Fall alle Bilder noch in allen Schnittkombinationen verwendbar sein, also unspezifisch, im Bildaufbau denn auch spannungsarm bleiben, so dürfen wir uns von solchem – unproduktivem – Aufschub nicht leiten lassen.

Im Widerstand, den ein Material, weil es sich mit den Intentionen des Drehens vollgesogen hat, seiner Umformung entgegensetzt, kräftigt sich schließlich die Montage, die Form.

 

Präsenz, Absenz. Eine Musik erklingt – aber das Werk ist dabei nie voll gegenwärtig. Weder die Partitur noch eine Aufführung sind das Werk: sie verweisen bloß darauf; stellen es dar, als Notation oder Aufführung. Was aber gemeint ist, muß abwesend bleiben.

Gleich auch wie die Aufführung einer Partitur stellt die Filmaufnahme einer Aufführung eine Realität her, die nur auf das gemeinte Abwesende verweisen kann – auf den ins Visuelle nicht übersetzbaren Sinn, der sich, vielleicht, im Hören und Zusehen erschließt.

Ein Stück zu filmen – wir sehen von Musiken ab, deren Zweck sich in der Schaffung einer Gelegenheit zu musikantisch selbstgenügsamer Aktion erschöpft – stellt daher ähnliche Aufgaben wie die filmische Formulierung eines historischen, sozialen, politischen oder philosophischen Zusammenhangs mit nichtfiktionalen Mitteln: selbst die volle Präsenz von Zeugen, Zeugnissen, Spuren verweist nur auf den notwendig abwesenden, weil seinem Wesen nach nur auf einem Umweg abbildbaren Gegenstand. Das Sichtbare ist Index, Verweis, Spur – obwohl es selber leuchtende, intensivste Präsenz sein muß, um lesbar zu werden.

Eine der Aufgaben unserer Filmarbeit ist demnach, diesen Sachverhalt nicht zu verdecken, ihn vielmehr zu verdeutlichen, sinnfällig zu machen.

Weder also soll der Schein entstehen, als habe man als Zuschauer, da wir – im Unterschied zur Radioübertragung oder Schallplatte, also der elektroakustischen Abbildung – nun auch Bilder von der Aufführung sehen, mehr von dieser miterlebt (denn man erfaßt ja nicht mehr, sondern anderes), noch etwa der Eindruck, die Konkretheit der photographischen Bilder hälfen einem Mangel der Musik ab, die unkonkret bleiben müsse, weil sie nur aus Tönen und Worten sich zusammensetzt.

Jede unreflektierte Umsetzung musikalischer Werke für die Leinwand leistet unweigerlich dieser Ideologie Vorschub, verdeckt also das Werk mehr, als daß sie einen Zugang dazu schüfe. Es ist eine regelmäßige Beobachtung beim Betrachten musikalischer Fernsehübertragungen, daß sie, je enger sie der Partitur, der musikalischen Oberfläche folgen zu müssen meinen, desto mehr den Hörer bei den optischen Äußerlichkeiten, die Nebeneffekte bei der Vermittlung des musikalischen Sinnes durch die Interpreten sind, befangen halten.

Es gibt dabei kein gedankliches ›Wegblicken‹ des Hörers, und dies umso weniger, als fast immer der Ehrgeiz der Inszenatoren oder ihre verinnerlichten Normen für Einstellungslängen, ›Notwendigkeit‹ von Abwechslung und dergleichen den Zuschauer mit ständig neuen bildlichen Attraktionen von der Musik ablenken.

(Am allerwenigsten läßt sich natürlich der Sinnzusammenhang einer Partitur an Mimik, Gestik, den Faxen oder gar an Resultaten der Transpiration von Dirigenten ablesen, wie einige Regisseure zu vermuten scheinen.)

 

Demgegenüber zeigt die Erfahrung, daß wider Erwarten eine sehr freie Auflösung, die vor allem mit aus dem sichtbaren Aspekt der Musik-Arbeit, aus den zweckmäßigen Bewegungen der Musiker abgeleiteten Nah- und Großaufnahmen operiert, daneben die weite Totale benutzt und auf die ständige Darstellung des Raums der Aufführung, des ganzen Orchesters und seiner Teilgruppen usw. verzichtet, den Blick auf das Werk weniger verstellen kann.

Außer bei weiten Totalen, die keine Details erkennen lassen und die daher das Zuhören wenig behindern, ist ja bei den meisten Einstellungen ein Teil der Stimmen hors champ. (Hansjörg Pauli hat in seinem Film Stravinsky-Weekend von 1972 einen ganzen Satz eines Orchesterstücks in der unscharfen Totalen gezeigt, die nur die markantesten gestischen Momente erkennen ließ: Minuten eines intensiven Musikhörens, bei dem das Ohr ganz aktiv wird – nicht nur wegen der freilich aufregenden Impertinenz des Regisseurs, sich etwas logisch Konsequentes zu gestatten.

Entsteht demnach, wo die Inszenierung kontinuierlich sich der Oberfläche entlangtastet, die wenn auch unfreiwillige Wirkung, was hors-champ sich ereignet, sei ›Begleitung‹ des Sichtbaren, wird meistens der Sinn vor allem einer Komposition neueren Datums verfälscht. (Es liegt hier nicht dasselbe vor wie im Konzert, wo Zuhörer vorübergehend einzelnen Stimmen oder dem Solisten ihr Augenmerk widmen: eine Einstellung ist zwingend; der Blick im Konzertsaal aber bleibt frei.)

 

Es gilt also, diesen Umstand des (immer mit Ausnahme der Totalen) unvermeidlichen hors-champ nicht als eine Behinderung hinzunehmen, sondern daraus die Konsequenzen zu ziehen und die Chance zu sehen, ihn zum Ausgangspunkt einer besonderen Technik der Découpage zu nehmen.

Aus diesen Überlegungen leiten wir die folgenden Forderungen ab:

1

Es gilt, sich mit dem historisch-sozialen Faktum der Dominanz des Gesichtssinns über das Gehör auseinanderzusetzen. Dies geschieht vermittels der Unterbrechung des abgebildeten Aufführungszusammenhangs durch die Realaufnahmen, sowie durch relativ häufige Einstellungen auf Teile des Ensembles, die offensichtlich im Augenblick wenig zum akustischen ›Vordergrund‹ beitragen. Dazu gehört das wartende Orchester zu Beginn des Vorspruchs, das Insistieren auf den Instrumentalisten im ›Senfkorn‹ nach dem Einsatz des Knabensoprans usw. Umgekehrt zeigen Nahaufnahmen uns Aspekte, die erst durch das Verharren auf einem Ausschnitt während des scheinbar asynchronen Agierens der übrigen Musiker deutlich werden (etwa die ›Knochenarbeit‹ der Instrumentalisten, die den ersten Solotext von Knobloch kontrapunktieren.

2

Wir vermeiden jede einfach illustrative Wirkung (des Bilds zur Musik wie umgekehrt), also die einfache Dependenz, Koppelung oder den Synchronismus der beiden Dimensionen. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß Bilder als ›Legende‹ oder Reflexion der musikalischen Schicht stehen, oder umgekehrt, oder daß der Synchronismus an wichtigen Stellen als Mittel eingesetzt wird.

3

Mit Ausnahme der Teile V und VI konstituiert sich das raum-zeitliche Kontinuum immer nur entweder in der Tonspur oder im Bild, während in der jeweils anderen Schicht Diskontinuität vorherrscht.

Die Sicht auf die Aufführung entsteht wie durch eine Reihe von Fenstern, die bisweilen den Blick freigeben, während andere Fenster den Blick auf die zitierten Bilder der Realität erlauben.

4

Aufbrechen der raum-zeitlichen Kontinuität der Aufführungssituation, nicht aber der räumlichen Logik.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: wo eine Aufnahme von Ensemble erscheint, hat diese absolut konkret, klar, räumlich logisch (etwa betreffend die Achsen) und musikhandwerklich sinnvoll zu sein – von ihrem Sinn in Bezug auf die Komposition nicht zu reden. Keine Impressionismen, Fahrten oder Schwenks zum Selbstzweck oder andere Gratiseffekte. Hingegen wird diese Konkretheit, Präsenz eben aufgebrochen, um an anderer Stelle wieder darauf zurückzukommen. Eine Art des 0ff also: wo reale Bilder sichtbar sind, ist das Konzert, wo das Konzert erscheint, die reale Welt im 0ff.

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Einstellungen. Für jeden der Teile des Stücks braucht es für die Konzertbilder einen Satz von klar definierten, im Aufbau eigenständigen und gegeneinander abgehobenen Einstellungen.

Die Umstände einer dokumentarischen Aufzeichnung der Aufführung erlauben nur eine beschränkte Zahl von überzeugenden Standpunkten für die Kameras. Das darf nun aber nicht dazu führen, von den möglichen Standpunkten aus (unter Nutzung der Zoomobjektive> beliebig die Cadrage zu manipulieren. Auch um den Preis eines weniger idealen Ausschnitts ist die eindeutige, erkennbare und damit auch einprägsame Einstellung dem wohlerzogenen Cadrieren vorzuziehen.

Innerhalb der Spanne von Totalen/weiten Totalen und der Nahaufnahme sollen selten Zwischenstufen stehen. Die Nahaufnahmen werden (außer jenen der Solistenkameras> bei den Proben separat aufgenommen. Während der Aufführung herrschen die kurzen Brennweiten vor, klar gefaßte Bilder, die nicht nach den unplastischen langen Brennweiten hin verwässert werden sollten.

* * *

Kulešov-Effekt. Ein französischer Fernsehfilm über Tango (mit dem Cuarteto Cedron, Piazolla u.a.) mischt, zunächst nicht uninteressant, dokumentarische Szenen von Polizeirazzien, Demonstrationen von Müttern Verschollener mit Aufnahmen von den spielenden Musikern, die sehr intim gehalten sind (aber intim wohl auch wegen des Playbackverfahrens – weh tut es, denn jede wirkliche Nähe geht verloren, wenn in einem Zimmer gespielt wird, dazu aber der sterile Ton des Studios klingt).

Was gleich auffällt: wenn immer man mit der Kamera auf den Köpfen der Musiker verweilt, fühlt man sich von der Musik abgelenkt. Es entsteht ein Effekt, als ob die Musiker, während sie diese traurige, wehmütige Musik spielen, an die Realität ihrer Heimat dächten, die in den schwarzweißen Realszenen immer wieder kurz aufscheint.

Ruht die Kamera hingegen auf den Instrumenten, der Gitarre oder dem Bandoneon, denkt die Musik an die betrauerte Wirklichkeit. Dies ist interessant, reich, tief; jenes bleibt banal und ein Gratiseffekt.

* * *

Une image trop attendue (cliché) ne paraîtra jamais juste,
même si elle l'est. (R.Bresson, Notes.. p.33

Es geht weniger um die Frage, die naheliegt: ob man in den Niederungen des Klischees, der images de marque, landen muß oder nicht, wenn man das gewählte Verfahren praktiziert. Vielmehr hängt alles nur an der Frage des Wie: wie diese Bilder konkret im Zusammenhang fungieren, ohne als Klischee zu wirken (verdoppelnd, nichts hinzufügend) – seien das nun die Real- oder die Konzertaufnahmen.

Es geht um die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens, die Art, wie sie mit den verinnerlichten Wahrscheinlichkeiten des Betrachters spielen. Und natürlich um die Haltung, die sich in der Art ihres Eingebautseins manifestiert. Etwa um den Unterschied, der einer ums Ganze ist: ob sie mit einer Scheu oder mit auftrumpfender Selbstverständlichkeit auftreten; ob sie Same, Keim oder volle Präsenz sein wollen.

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L'œil sollicité seul rend l'oreille impatiente,
l'oreille sollicitée seule rend l'œil impatient.
Utiliser ces impatiences. Puissance du cinématographe
qui s'adresse à deux sens de façon réglable. (p.62)

Je weniger Bildinformation (informationstheoretisch gesehen, nicht also Sinn), umso besser die Durchhörbarkeit der Tonspur.

So wie man nachts im Walde Laute hört, die man, geblendet vom Gesichtssinn, von Raumtiefe und Plastizität der sichtbaren Erscheinungen, am Tage gar nicht wahrnimmt, regen die dunklen Bilder im Kino den Gehörsinn an. Was man, im Schattenhaften, nicht sehen, bloß erahnen kann, möchte man erlauschen.

Äußerste Aktivierung des Gehörsinns da, wo Gefahr droht: schockhaft das abstrakte Schwarz in den Filmen.

© 2000 Mathias Knauer